Im Grunde haben wir mit der Erläuterung des Begriffs der Abstraktion nur wieder genau das von einer anderen Seite beleuchtet, was wir zuvor „Akt des Wissens“ genannt haben. Alles Wissen ist in gewisser Weise Abstraktion. Oder auch, allgemeiner gesagt, Darstellung. Immer geht es um eine Art Extraktion des als wesentlich Erachteten und dessen Projektion auf eine andere Ebene, in einen anderen Raum, in eine andere Dimension. Was, wie wir gezeigt haben, als Pyramide illustriert werden kann.
Eine andere Möglichkeit der Erzeugung von Wissen wird „Wahrnehmung“ genannt. Und auch diese kann gut mit nahezu denselben Worten beschrieben werden, so dass dasselbe Muster erkennbar wird — sozusagen die Grundfigur des Wissens.
Diese X-Logik kann nicht das ultimative System sein, das alles Wissen umfasst — nicht mal prinzipiell. Ganz einfach weil es so etwas nicht gibt. Jedes Bild, jedes Modell, jedes System ist partiell oder einseitig.
Wenn wir ein bestimmtes Modell gebrauchen, dann versuchen wir, es unter den jeweiligen Bedingungen zu realisieren. Das, was dabei herauskommt, sollte also immer dasselbe sein; wir vervielfältigen es.
Doch so wird dieser Vorgang sozusagen nur von außen gesehen. Von innen heraus, während seiner Anwendung, kann das Modell selbst gar nicht festgestellt werden. Es ist quasi unsichtbar, ununterscheidbar, weil es überall ist und allem seine spezielle Prägung verleiht. Das was — gerade auch durch das Modell — gesehen werden kann, ist vielmehr eine Vielgestaltigkeit der Dinge und ihrer Beziehungen zueinander.
Es gibt immer verschiedene Betrachtungsweisen. Die ein Ding ganz anders erscheinen lassen können. So sehr, dass es nicht mal mehr dasselbe Ding (oder eine Instanz oder Kopie desselben) genannt werden darf. Letztlich muss es überhaupt nichts Entsprechendes geben, keine Regelmäßigkeit, die sich zu einem Ding zusammenfügt oder so. Womöglich ist da offensichtlich gar nichts.
Noch der kleinste Punkt lässt sich aufspreizen, entfaltet sich zu einer ganzen Welt.
Und andersherum schrumpft bei entsprechender Perspektive der ganze große Raum mit allem Drum und Dran zu einem einzigen Punkt — wenn überhaupt noch was davon zu sehen ist.
Der umfassende Raum enthält alle Dinge. Er vereinigt auch alle möglichen Ansichten von sich, aus allen möglichen Perspektiven. Jede Ansicht gibt so gesehen nur einen Teil des Raums wieder.
Allerdings sieht die jeweilige Ansicht nicht selbst ihre Beschränktheit. Insofern muss sie sich als vollständig sehen, das Ganze erfassend — und erweist sich doch mit Sicherheit irgendwann als partiell.
Eine logische Konsequenz, die daraus zu ziehen ist, ist, dass es keinen prinzipiellen Unterschied gibt zwischen einem Teil-Raum und dem ganzen. Die Unvollständigkeit zeigt sich immer nur sozusagen von außen, aus einer anderen Perspektive — die wiederum nichts anderes als eine bestimmte Ansicht der Wirklichkeit bieten kann.
Der alles umschließende unendliche Raum wird zu einem begrenzten, wenn er sozusagen von außen betrachtet wird. So verfestigt er sich zu einem Ding mit erkennbaren Eigenschaften, die ihn von anderen Dingen unterscheidet. Mit denen er sich den gemeinsamen allumfassenden einen Raum teilt
Da sich dieser Vorgang ständig wiederholt, mag die Vorstellung von ineinander verschachtelten, immer größeren Räumen aufkommen. So dass eine allmähliche, wenn auch womöglich nie vollendete, Annäherung an den wahren Raum stattfinden könnte. Die Idee einer Hierarchie der Räume (bzw. der Dinge), die in der einen oder anderen Form weit verbreitet ist, mag so begründet werden.
Dabei stillschweigend vorausgesetzt wird jedoch die Existenz einer Ordnungsrelation — hier angedeutet durch die immer „größeren“ Räume — die in allen möglichen Räumen besteht. Doch indem eine solche erkannt, also, wie oben gesagt, von „außen“ betrachtet wird, verliert sie ihre uneingeschränkte fraglose Allgemeingültigkeit, weil in dem Moment auch Räume denkbar werden, die nicht diese Eigenschaft besitzen. Die Räume mit dieser Ordnungsrelation werden also Teil eines noch allgemeineren Raumes, in dem diese nicht in gleicher Weise gilt. Und der deshalb auch nicht unbedingt „größer“ genannt werden muss.
Wenn die Beschaffenheit des Raumes erkannt wird, dann kristallisiert sie zu einem Ding. Dieser Prozess ist durchaus umkehrbar: ein Ding kann sich zum unendlichen Raum weiten. Seine innere Struktur wird zur Struktur des Raums — so vollkommen, dass sie nicht mehr wahrgenommen werden kann. Erst wenn die Brille abgenommen wird, zeigt sich, wie sehr sie die ganze Wahrnehmung beeinträchtigt hat. Aber in Wahrheit ist jedes Abnehmen einer Brille das Aufsetzen einer anderen.
Jedes Ding kann als Brille dienen, durch die die Welt wahrgenommen und in ganz bestimmter Weise gefiltert wird. Und jede Wahrnehmung geschieht durch eine derartige Brille, ein Ding; Wahrnehmung ist Reflexion an einem Ding, Projektion auf ein Ding. Nur durch diesen Prozess kann etwas wahrgenommen und gewusst werden. Durch Übertragung auf und in ein anderes Medium.
Die Physik beschäftigt sich mit realen Dingen. Zentraler Ausgangspunkt ist die Erfahrung. Das bedeutet, dass die Physik sich immer wieder an der Realität messen muss. Noch die schlüssigsten Folgerungen aus den schönsten Theorien zählen nichts, wenn sie nicht durch reale Erlebnisse bestätigt werden.
Andererseits geht es in der Physik natürlich um Theorien. Es geht um Aussagen über die Realität; oder um Bilder von ihr. Um mathematische Gleichungen, die auf ihre Art die Natur beschreiben. Insofern findet immer eine Art Transformation der vorgegebenen Wirklichkeit statt: ins Reich der Theorie, des Geistes.
Oder, konkreter, in das jeweilige Medium der Repräsentation.
Ein Raum, dessen Struktur erkannt wird, wird zu einem speziellen, in gewisser Weise abgegrenzten Raum — und damit zu einem Ding im Raum. Auf diese Weise lassen sich womöglich beliebig viele Unter-Räume definieren und absondern, die, anders herum betrachtet, sich alle zum einen Raum des Wissens vereinigen. Dabei durchdringen sie einander, verlieren jede scharfe Abgrenzung gegeneinander.
Jedes Ding im Raum kann als verdinglichter (Unter)Raum angesehen werden. Und jeder (Unter)Raum ist ein entgrenztes Ding. Raum und Ding sind zwei verschiedene Aspekte ein und desselben. Dabei entspricht jedes Ding einem speziellen Raum und umgekehrt.
So kann jede Interaktion zwischen Dingen als Durchdringung oder Überlagerung ihrer Räume gelten. Und jede Erscheinung eines Dinges geht auf eine solche Interaktion zurück. Es spiegelt sich in einem anderen Ding und tritt so in Erscheinung. Was auch als Durchdringung und Beeinflussung seines Raums durch einen anderen verstanden werden kann.
Aus einem anderen Blickwinkel wird derselbe Vorgang vielleicht genau anders herum beobachtet, als Erscheinung des anderen Dinges. Statt von verschiedenen „Blickwinkeln“ können wir auch von verschiedenen „Wissenräumen“ reden, in denen jeweils ein anderes Ding erscheint. Dann markiert das Ding sozusagen den Übergang von einem Raum in einen anderen, eben weil es mal so und mal anders gesehen werden kann. Jedes Ding ist die Kristallisation verschiedener einander durchdringender Räume.
Die Physik ist ein ziemlich komplexes System. Einzelne ihrer Aussagen können nur verstanden werden, wenn eine gewisse Vertrautheit mit dem System, ein Vorwissen, vorhanden ist. Insofern stellt die Physik einen ganz eigenen Wissensraum dar.
Mitunter ist es jedoch durchaus möglich (und nötig), zwischen verschiedenen Teilbereichen zu differenzieren, relativ eigenständigen Disziplinen oder auch Herangehensweisen, die dann eigene Räume des Wissens definieren. Diese können einander durchdringen und überlagern; verschiedene Theorien und Modelle können sich ergänzen und ineinandergreifen.
Sinn macht die Physik aber nur, weil noch ganz andere Räume mit ihr überlappen, die nicht direkt zur Wissenschaft als solcher gehören, sondern sozusagen zur „wirklichen“ Welt. Erst das versetzt die Physik in die Lage, sowohl auf materielle Dinge einzuwirken, als auch von ihnen beeinflusst zu werden, so dass sie die physische Wirklichkeit widerzuspiegeln vermag.
Die Physik sieht die Welt durch die Brille der Physik. Mehr kann sie nicht — auch wenn sie manchmal mehr zu wollen scheint. Was zweifellos ihr gutes Recht ist, ja sogar ihre Pflicht. Denn letztlich kommt es nicht darauf an, was die Theorie behauptet, sondern nur darauf, was wirklich geschieht. Daraus jetzt aber zu folgern, es gäbe so etwas wie die eine objektive Wirklichkeit jenseits jeder derartigen Sehhilfe, hieße, über’s Ziel hinaus zu schießen. Und vor allem verführt gerade das dazu, irgendwann das Bemühen um Objektivität und Realität oder auch Wahrheit aufzugeben, gar zu verbieten.
Dabei spricht nichts dagegen, davon auszugehen, dass jede Realität eine bestimmte Ansicht der Realität ist. Realität ist immer reflektierte, gewusste. Etwas anderes lässt sich beim besten Willen nicht feststellen — warum sollte es dann da sein? Und überhaupt — was sollte es sein?