Neuland

Vieles von dem, was hier über Wissensräume und so gesagt wird, wäre ohne Computer kaum möglich — und wohl auch nie nötig gewesen.

Computer machen vieles anders. Sie öffnen einen neuen Zugang zum Wissen. Dabei wächst nicht nur explosionsartig die Quantität verfügbarer Informationen, allmählich wird auch eine neue Qualität von Wissen sichtbar: Ansichten eines Landes, das zu erforschen wir gerade erst beginnen — obwohl wir schon immer dort leben.*(1)

Mehr Möglichkeiten

Computer sind Teil dessen, was heutzutage gerne “neue Medien” genannt wird. Als solche stehen sie im Kontrast zu traditionellen (oder “alten”) Medien. Beide können der Übermittlung und Aufbewahrung von Wissen dienen, dieses aber auf recht unterschiedliche Weisen.

Sicherlich sind wir geneigt zu sagen, dass Computer viel mehr können als Bücher zum Beispiel; ist es doch ein Leichtes, viele Tausend Bücher mit Hilfe eines Computers zu speichern und bei Bedarf abzurufen — zusammen mit unzähligen zusätzlichen Informationen, Bildern, Filmen, Lernprogrammen und so weiter.

Es ist typisch, dass wir, sobald wir etwas Neues kennengelernt haben, nur noch sehen, wie haushoch überlegen es allem Alten ist. Die Möglichkeiten des Neuen scheinen unendlich viel weiter zu reichen und das Alte bestenfalls als einen irgendwie primitiven Spezialfall einzuschließen. Ein armseliger Vorgänger, Spielzeug für Kinder vielleicht…

Doch nicht immer und überall können Computer ein Buch wirklich gleichwertig ersetzen.

Aktiv werden

Was Computer vielleicht am augenscheinlichsten von traditionellen Medien*(2) unterscheidet, ist die Aktivität.

Das fängt schon mit dem Einschalten an. Computer brauchen Energie. In ihnen laufen Prozesse ab, die ständig aufrechterhalten werden müssen. Unter der Oberfläche findet fortlaufend Aktivität statt.

Doch auch auf der Oberfläche, insbesondere der des Bildschirms, ist Bewegung. Nicht nur wenn Filme abgespielt werden.

Derartige bewegte Bilder hat es auch schon vor den Computern gegeben, sie haben sozusagen das Zeitalter der neuen Medien eingeläutet.*(3) Computer aber zeichnen sich darüber hinaus vor allem durch ihre Interaktivität aus, die es dem Benutzer erlaubt, verschiedenartigste Bewegungen zu verursachen und zu beeinflussen.*(4)

Kleine Schritte

Beim Computer wird die Interaktivität möglich durch ständige Unterbrechung des Programmflusses. Alles erfolgt in kleinen Schritten, die fast beliebig aneinandergereiht werden können. Immer wieder kann so selbst in laufende Prozesse eingegriffen werden.

Wobei auch scheinbar statische Zustände insofern Prozesse sind, als sie immer wieder erneuert werden. Andernfalls fänden sie gar nicht statt.

Zusammengesetzt

Nicht nur menschliche Benutzer können mit einem Computerprogramm interagieren, sondern auch andere Programme. Dies kommt sogar sehr viel häufiger vor, es findet eigentlich ständig statt. Innerhalb eines Computers laufen sehr viele Programme, die nur andere Programme steuern oder mit Daten oder Hardware-Ressourcen versorgen oder so.

In gewisser Weise ist jedes Programm zusammengesetzt aus kleineren Einheiten, die durchaus selbst “Programme” genannt werden können. Sie erfüllen bestimmte Funktionen und werden bei Bedarf eingeschaltet. Dann interagieren sie mit anderen Teilen des Programms über spezielle Kanäle oder Schnittstellen — die letztlich auch wieder nichts anderes sind als eben solche Unter-Programme, die eine bestimmte Funktion erfüllen…

Kontrolle

Der größte Teil der in einem Computer vor sich gehenden Aktivität wird nicht direkt vom Anwender in Gang gesetzt und gesteuert, sondern von Programmen. Diese werden ihrerseits von anderen Programmen kontrolliert, welche wieder von anderen abhängen und so weiter. Interaktivität findet sowohl zwischen den einzelnen Ebenen der Kontrollhierarchie statt, als auch zwischen Programmen, die sozusagen auf derselben Ebene angesiedelt sind.

In diesem Sinne “höhere” Programme sind normalerweise denen, die von ihnen kontrolliert werden, in keiner anderen Weise überlegen. Kontrolle und Steuerung sind lediglich spezielle Funktionen, die erfüllt werden müssen, und oft gelingt das möglichst einfachen Programmen am besten. Sie müssen weder mehr wissen als andere, noch sehen, was sonst noch alles irgendwo passiert, sondern entscheiden gewöhnlich nur aufgrund weniger Indizien, wobei sie klaren Richtlinien folgen.

Dasselbe gilt für Programme, die verschiedene andere zu einem einzigen großen zusammenfassen. Verglichen mit dem Reichtum der einzelnen Bestandteile sind die zentralen, für die Zusammenführung zuständigen Komponenten häufig recht einfach gehalten, ohne jede unnötige Komplexität, die die Koordination nur noch zusätzlich erschweren würde. Je mehr Ressourcen die Kernkomponenten für sich und ihre Arbeit in Anspruch nehmen, desto weniger bleibt für den Rest übrig, was vor allem heißt: für den Anwender.

Entscheidend

Einerseits sollte jedes Programm so einfach wie möglich sein, andererseits aber ist jedes Programm auch dadurch charakterisiert, dass es verschiedene Möglichkeiten des Agierens umfasst: nur so ist ein Reagieren auf verschiedene Bedingungen, Eingaben etwa, möglich.

Das gilt selbst für den Fall, dass es nur darum geht, entweder aktiv zu werden oder nicht, also nur um ja oder nein, an oder aus, 1 oder 0.

Verschiedene Möglichkeiten und das damit verbundene Moment der Entscheidung sind entscheidende Merkmale noch der kleinsten Programmelemente. Darauf baut alles auf, die ganze Funktionsweise des Computers.

Entscheidung macht alles anders. Das Ganze — und besonders auch dessen Verhältnis zu den Teilen. Es geht nicht mehr so sehr um Addition, als vielmehr um Koordination.

So um die 100%

Sicherlich könnten wir sagen, dass ein Programm, das aus vielen anderen Programmen besteht, all diese enthält und damit auch all die verschiedenen Möglichkeiten umfasst und besitzt. Wenn aber damit vollkommene Kontrolle oder der totale Überblick assoziiert wird, dann ist die Aussage mehr als irritierend. Die Assoziation ist definitiv falsch.

Man könnte einwenden, dass es theoretisch möglich sein müsste, alle möglichen Verzweigungen zu erfassen. Und bei sehr einfachen Programmen, die in einer sehr zuverlässigen Umgebung laufen, mag das sogar praktikabel sein. Dann ist auch nichts dagegen zu sagen, davon Gebrauch zu machen. Aber es ist vollkommen unrealistisch, die ganze Computerei auf solche eideutig determinierten Programme reduzieren zu wollen. Das hieße einerseits, die Augen zu verschließen vor immer wieder, gerade dort, wo sie am wenigsten vermutet werden, auftauchende Unvorhersehbarkeiten, andererseits aber auch, die Gebrauchsmöglichkeiten des Computers über alle Maßen einzuschränken.

Ein großer Vorteil der Computer ist es gerade, mit Situationen umgehen zu können, die nicht hunderprozentig bestimmt sind. Also mit solchen Situationen, die in guter Näherung zu hundert Prozent unsere reale Welt ausmachen.

Das gilt auch für die Bedienbarkeit der Programme, die Interaktion mit den Benutzern. Je enger die Vorgaben sind, an die sich diese zu halten haben, desto unhandlicher, verschachtelter und damit undurchsichtiger wird das Ganze. Und es bringt im Endeffekt auch nicht mehr Sicherheit, sondern potenziert die Gefahr fehlerhafter Bedienung.

Nichts tun

Im Allgemeinen hat jedes Programm auf die verschiedensten Situationen zu reagieren, von denen einige praktisch unvorhersehbar sind. Statt etwas zu tun, was vielleicht schlimme Folgen hat, ist es mitunter besser für ein Programm, gar nicht erst aktiv zu werden, vielleicht sogar eher abzustürzen. So bleibt Nichtstun grundsätzlich eine Alternative, die es wert ist, in Betracht gezogen zu werden. Es ist Teil des Spektrums möglicher Handlungsweisen eines Programms.

Wie wir zuvor schon festgestellt haben, ist Nichtstun auch in dem Sinne grundlegend, dass es den Fluss unterbricht, um Modulationen oder andere Aktionen wirksam werden zu lassen.

Letztendlich gleichen sich beide Arten von Inaktivität darin, dass sie den Raum zwischen Phasen der Aktivität bilden. Somit ermöglichen sie es jener Aktivität, genau das Richtige zur rechten Zeit am rechten Ort zu tun — und zu sein!

Sprünge und Schleifen

Die gewaltigen Datenmengen, die ein Computer bearbeitet, bekommen erst dadurch Sinn, dass Programme die Aktivität hier hin und dort hin lenken, sie vor und zurück springen lassen. Letztlich besteht die ganze Aktivität des Computers nur aus derartigen Sprüngen, jedes einzelne der Daten sagt ihm, was er als nächstes zu tun hat, wo er hinspringen soll.

Manchmal führt so ein Sprung sozusagen nach draußen und beeinflusst die Außenwelt, indem er einen materiellen Sprung auslöst, der feste Körper bewegt, psychische Reaktionen hervorruft oder was sonst noch für Aktivitäten verursacht. Aktivitäten, von denen einige wiederum neue Daten erzeugen können — frische Nahrung für den Computer.

So sind die Computer Bestandteile größerer Kreise und haben Teil an viel umfassenderen Handlungszusammenhängen. Aktivität durchläuft eigentlich immer derartige Schleifen, wodurch bestimmte dauerhafte — weil ständig sich wiederholende — Figuren herausgebildet werden. Diese geben der Aktivität Richtung und Form und können so durchaus als eine Art Programme angesehen werden.*(5)

Auf Knopfdruck

Ein Druck auf den Knopf — und schon sind wir ganz woanders. Ganz neue Räume öffnen sich. Häufig muss nur ein bestimmtes Wort angeklickt werden, und wir betreten unermessliche Sammlungen des Wissens, Bibliotheken, die Antworten auf nie gestellte Fragen parat haben. Plötzlich ertönt Musik; ein Film läuft ab; oder jemand teilt uns etwas mit, wir sprechen miteinander.

Überall gibt es derartige Knöpfe, Bildchen, verweisende Wörter — einfache Dinge, die, wenn wir sie berühren, aufpoppen zu einem ganzen Universum.

Dies ist eine Metapher für die neue Welt des Wissens, mehr noch, eine unverzichtbar gewordene Methode. So ist Wissen heutzutage organisiert — und nicht in mehr oder weniger übersichtlichen Regalen und Fächern, mit Büchern, die in Kapitel unterteilt sind, in Absätze, Sätze, Wörter, Buchstaben — die, zu Wörtern zusammengefügt, Sätze ergeben, die etwas aussagen und nach und nach immer umfangreicheres Wissen darstellen.

Die neue Methode verlangt und begründet eine neue Theorie. Eine Theorie des Knopfdrucks, basierend auf einer Pop-up-Logik.

Vom Raum ausgehend

Mechanische Apparate sind im Großen und Ganzen linear aufgebaut*(6). Die Kraft wird von einem Bauteil aufs nächste übertragen, wofür eine geeignete Verbindung bestehen muss.

Beim Computer liegen die Dinge grundsätzlich anders: die Aktivität kann beinahe beliebige Sprünge machen. Sie wird zwar vom Programm gelenkt und eingeschränkt, das Programm aber kann dabei aus dem Vollen schöpfen. Gerade deshalb kann es so genau sein, noch auf die feinsten Nuancen reagieren, seinen Weg an allen Hindernissen vorbei suchen.*(7)

Der jeweilige Weg kann durchaus “linear” genannt werden — doch seine Grundlage ist nicht linear, sondern räumlich.

Inbegriff der Aktivität

Es ist überaus sinnvoll, Raum als fundamentalen Begriff hier einzuführen. Und es hat weitreichende Folgen.

“Raum” verweist auf eine grundsätzliche Unbestimmtheit und Offenheit: Viel mehr ist möglich, als auf den ersten Blick sichtbar. Und die Dinge verändern sich, durch permanente (Inter-)Aktivität. Lineare Darstellungen dieser Aktivität stoßen da schnell an ihre Grenzen, weil alles viel zu komplex wird.

In dieser Situation kann der Begriff des Raums vieles vereinfachen. Er fasst zusammen, erfasst das Ganze.

Er ist aber auch logisch einfacher, kommt noch vor jeder Linearität. Dann nämlich, wenn wir Raum als Inbegriff der Aktivität verstehen.

Einzelne lineare (Inter-)Aktionen sind Ausdruck dieses Potenzials, durch ständige Wiederholung eingefahrene Spuren, in den Raum gegraben, ihn strukturierend, die Aktivität kanalisierend.

Möglichkeiten-Raum-Programm

Die Gesamtheit der verschiedenen Möglichkeiten, die ein Programm bietet, die Menge seiner potenziellen Prozesse, kann als Raum verstanden werden. Dieser Raum ist genau so definiert.

Durch das Programm.

Kurz und bündig

Ein Programm ist eine Repräsentation eines Raumes. Sozusagen der Raum auf den Punkt gebracht. Transportierbar und Reproduzierbar. Objektiv –

– die passende Umgebung vorausgesetzt.

Immer dasselbe

Mit der zuvor erwähnten Fülle der Möglichkeiten eines Programms ist nicht primär eine innere Komplexität und die Verschlungenheit der Wege gemeint. Viel wichtiger ist das flexible Reagieren auf die verschiedensten Eingaben — was im Idealfall auch für ganz einfache Programme gilt.

Im Prinzip geschieht immer dasselbe, es ist ein Programm, das abläuft. Aber es erzeugt ein breites Spektrum an Erscheinungen, einen ganzen Raum.

Kommunizierende Programme

Damit zwei Programme miteinander kommunizieren können, wird ein drittes gebraucht, das die beiden verbindet.

Die Kommunikation ist in der Regel eine partielle. Nicht jede Aktivität des einen Programms wird von dem anderen registriert. Teile des einen Programms interagieren mit Teilen des anderen, sie werden miteinander verbunden. Und bilden so ein neues Programm. Mit einem eigenen Raum.

Die Programm-Räume durchdringen einander. Dabei überlagern sie sich zu einem ganz eigenen Raum. Allerdings gibt es keine scharfe Abgrenzung zwischen den Räumen. Enthaltensein in einem schließt das Enthaltensein in einem anderen nicht aus. Doch natürlich gibt es vieles, was nur in einem der sich überlagernden Räume stattfindet. Jeder Raum ist auf seine Weise einzigartig.

Restrukturierung

Programme schaffen Kontinuität, wo sonst nur Lücken sind. Sie verbinden weit voneinander entfernte Daten miteinander, so dass sie plötzlich direkt nebeneinander liegen. Sie arrangieren die Dinge neu, restrukturieren den Raum — und schaffen so einen neuen Raum.


*(1) Dennoch sollten wir darauf gefasst sein, dass es ganz anders sein könnte als all das, was uns so vertraut ist.

*(2) — wie schriftlichen Dokumenten etwa, die weitestgehend statisch und abgeschlossen sind —

*(3) Schon sie haben unser Weltbild nachhaltig beeinflusst und zum Beispiel ein ganz neues Verständnis von Zeit reifen lassen — nicht zuletzt in der Physik.

*(4) Ähnliches gibt es zwar auch bei rein mechanischen Maschinen, aber in einem vergleichsweise sehr viel bescheidenerem Umfang.

*(5) Im Grunde ist jede Aktivität ein Sprung, ein Übergang von einem Zustand zu einem anderen.
Jeder Zustand aber besteht nur dadurch, dass er aktiv aufrechterhalten wird. Statisch erscheint er, weil sich dieselbe Aktivität ständig wiederholt.

*(6) — woran auch gelegentliche Verzweigungen nichts ändern

*(7) Wo der mechanische Apparat immer stur geradeaus geht.