Manchmal wird unterschieden zwischen der Realität — und dem, was wir von ihr wissen oder wahrnehmen, also der (geistigen) Repräsentation der Realität. Doch so sinnvoll diese Unterscheidung manchmal sein kann, so wenig ist sie absolut zu sehen.
Zum einen ist jede Repräsentation der Realität selbst real. Zum anderen entpuppt sich all das, was wir zu irgendeinem Zeitpunkt als real betrachten, irgendwann als bloße Repräsentation.
So spielt diese Unterscheidung vor allem eine wichtige Rolle beim Fortschritt des Wissens*(1). Im Grunde handelt es sich um die Unterscheidung zwischen guten oder schlechten Repräsentationen, zwischen solchen, die die Realität treffen und weiterbringen — und solchen, die sie verfehlen und behindern.
Ist Realität immer reflektierte? — Nun, eine andere können wir nicht kennen.
Ob es sie aber dennoch gibt, ob Realität unabhängig davon, dass sie erfahren wird, existiert, ist eher eine Frage des Meinens oder Glaubens als des Wissens.
Sicher ist, dass nichts existiert, ohne irgendwie mit anderem zu interagieren. Alles, was ist, hat Auswirkungen auf anderes. In dieser Wirkung tritt es in Erscheinung. So spiegelt es sich im Anderen.
Allerdings sind wir es gewohnt, diesem Anderen nur dann “Wissen” und “Erfahrung” zuzuschreiben, wenn es ein Mensch ist.*(2)
Die Beziehungen zwischen den materiellen Dingen sind nicht weniger real als diese Dinge selbst. Häufig werden sie als sogenannte “Gesetze” formuliert, in der Physik zum Beispiel als Naturgesetze.
Manche dieser Gesetze sind alles andere als offensichtlich, sie werden erst im Laufe der Zeit entdeckt und ihre — oft technisch aufwendige — Anwendung muss gelernt werden. Andere jedoch erfassen wir intuitiv, wir berücksichtigen sie wie selbstverständlich in unserem Handeln, lange bevor sie als Gesetzmäßigkeit erkannt und als Gesetz formuliert werden.
Wir alle haben eine Art eingeborenes Wissen, nicht erlernt, sondern vererbt. Es ist sozusagen in unseren Genen gespeichert und in unserem Körper materialisiert. So gesehen ist jeder lebendige Organismus verkörpertes Wissen.
Wir wollen sogar noch einen Schritt weiter gehen und jedes materielle Ding als gespeichertes Wissen auffassen.
Selbst in dem hier entwickelten erweiterten Sinn ist Wissen nicht das Ganze. Es ist überall, alles ist Wissen, aber um wirklich real zu sein, bedarf es mehr.
Was fehlt ist Aktivität.
Aktivität bewirkt Veränderung. Als solche stellt sie eine ständige Bedrohung dar für das Wissen, die starre Ordnung, wo alles seinen genau definierten Platz hat. Für alle Ewigkeit.
Aktivität kann alles über den Haufen werfen. Von einem Moment auf den anderen.
Nur selten führt Aktivität zu etwas ganz anderem, meist ist sie Bewegung im Bekannten.
Tatsächlich lässt sich immer eine Betrachtungsweise finden, der alles schon bekannt ist — und eine andere, für die alles neu wird.
Aktivität ist immer beides. Jeder Schritt kann als Verlassen des Alten und Betreten eines Neuen betrachtet werden — oder auch als einfache Bewegung von einem Ort zum anderen desselben umfassenden Raums.
Angesichts der zuvor erwähnten Vielzahl der Räume könnten wir geneigt sein, von verschiedenen Realitäten zu sprechen, und dass wir in einem Multiversum statt einem Universum leben. Aber Tatsache ist, dass für uns in jedem Moment jeweils nur ein Raum real sein kann. Und dieser Raum wird in keiner Weise als begrenzt erfahren. Er ist endlos. Also ist er das Ganze, der eine und einzige allumfassende Raum.
Doch schon im nächsten Moment ist er Geschichte geworden, eine begrenzte Auffassung, eine beschränkte Sichtweise. JETZT wo wir den Durchblick haben…
Beides ist real, beides lehrt die Erfahrung: dass die Realität eine einzige, allumfassende, ist — und dass es viele verschiedene Realitäten gibt.
Wir wählen hier bewusst eine Sichtweise, die scheinbar Widersprüchliches zusammenführt. Die so entstehende Einheit ist eine dynamische, sie schreitet voran. Schritt für Schritt, Stufe auf Stufe. Wodurch sie sich vervielfältigt und unweigerlich eine Vielheit erzeugt. Mit Widersprüchen — die nach einer neuen verbindenden Sichtweise schreien.
Vieles von dem, was wir mit einem Abbild der Wirklichkeit machen können, ist in der Realität selbst unmöglich. Im Modell oder in der virtuellen Realität herrschen andere Gesetze als in der echten. Das heißt aber nicht, dass es dort keine Gesetze gibt.
Das Vorhandensein von — so weit wir sehen können — universellen Naturgesetzen ist also kein Indiz dafür, dass es nur die eine Realität gibt, und dass das, was diesen Gesetzen gehorcht, nicht auch auf einer sehr tiefen Ebene virtuell ist. Oder dass diese Gesetze unabhängig davon sind, dass und wie die Welt dargestellt und erlebt wird.
Viel wahrscheinlicher ist das Gegenteil: dass Realität immer irgendwie abgebildet und virtuell ist.
Letztlich gibt es keinen logischen Unterschied zwischen einer virtuellen und der wirklichen Realität.
Jedes Bild der Welt ist aktiv erzeugt. Selbst die scheinbar passive sinnliche Wahrnehmung ist in Wirklichkeit aktiv. Wie auch jede wissenschaftliche Messung. So ist alles, was wir über die Welt wissen, im Grunde eine Konstruktion.
Alles Reale ist konstruiert. Wir lassen es Wirklichkeit werden.
Wissen beruht auf Konventionen des Handelns. Wir lernen, unser Wissen in der richtigen Weise anzuwenden. Erst dann besitzen wir es wirklich.
Sprachliche oder auch bildliche Ausdrucksformen des Wissens dienen als Anhaltspunkte, die es uns erleichtern, die richtigen Handlungen zu rekapitulieren. Sie können aber auch zum Selbstzweck werden, wenn unser Handeln sich fast nur noch auf diese Symbole bezieht. Auf diese Weise entstehen komplexe Gebäude, in sich geschlossene künstliche Welten.
Diese virtuellen Wirklichkeiten bündeln unsere Aktivität und übertragen die resultierende Energie auf jeden, der eine Funktion in ihnen übernimmt. Das macht die künstlichen Realitäten zu realen. Sie versorgen uns mit allem, was wir brauchen, und bilden unseren Zugang zu allen anderen Ebenen der Wirklichkeit.
Die menschliche Wirklichkeit ist geprägt von gesellschaftlichen Verhaltensweisen und gemeinsamen Aktivitäten. Über die Sprache und viele andere Medien wird sie vermittelt und gestaltet. Dabei beschäftigt sich der Mensch hauptsächlich mit seinesgleichen. Sprache, Wissen und letztlich auch Wirklichkeit sind soziale Phänomene.
Ob wir wollen oder nicht — wir sind gezwungen, auch die nicht-menschliche Wirklichkeit mit den Augen zu sehen, die uns zur Verfügung stehen, und die nun mal entscheidend vom menschlichen Zusammenleben geprägt sind.
Und tatsächlich können wir feststellen, dass wir viel weiter reichen, dass unsere Verwandtschaft viel größer ist, als uns zunächst bewusst ist.
Die Identifikation mit dem Menschsein mag zwar schon ein Fortschritt sein gegenüber einer Beschränkung auf eine Nation oder so, letztlich ist sie aber doch auch genauso künstlich und begrenzt.
Abgrenzung ist sicherlich charakteristisch für das, was gewöhnlich Wissen genannt wird. Viel grundlegender ist aber das Gemeinsame. Um dieses zu kosolidieren, ist manchmal Abgrenzen angebracht. Es bleibt aber doch nur eine sekundäre Funktion, ein Produkt, nicht die Grundlage von Wissen.
*(1) der auch immer begleitet ist von praktischen Veränderungen, veränderten Verhaltensweisen und so
*(2) Früher hätte womöglich nicht mal das gereicht, die Erkennntnis, dass alle Menschen im Wesentlichen gleich sind, musste sich erst durchsetzen.
Die wesentliche Frage hier ist, wie wir uns selbst (und entsprechend das andere) sehen, mit wem oder was wir uns identifizieren.